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Selbstheilungskräfte Gesund durch Zuversicht

Die Macht der Selbstheilung: Jede Behandlung besteht auch aus einem psychologischen Anteil, der wie ein bewährtes Medikament wirken kann.
Phantasie-Medikamentenpackungen: Wunderbare Placebo-Welt (Illustrationen von www.zimzandzou.fr)

Phantasie-Medikamentenpackungen: Wunderbare Placebo-Welt (Illustrationen von www.zimzandzou.fr)

Foto: Zim & Zou/ SPIEGEL Wissen

Als die Erde bebte und das Krankenhaus schwankte, da schien das Schicksal der 14 darin liegenden Patienten besiegelt. Sie hatten die Parkinson-Krankheit in schwerer Form und waren in ihren Bewegungen wie festgefroren.

Doch in der Todesangst erwuchs diesen kranken Menschen eine wundersame Kraft. Ihre Gangblockaden waren auf einmal aufgehoben. Sie liefen ins Freie und überlebten. Auf der Flucht durchs Treppenhaus fanden sie sogar noch Zeit, neun ihrer Pfleger aus der einstürzenden Klinik zu retten.

Diese Geschichte aus den italienischen Abruzzen vom April 2009 war nur eine von vielen, die vor einiger Zeit auf einem Kongress in Tübingen die Zuhörer zum Staunen brachten. Psychologen, Ärzte und Neurobiologen aus der ganzen Welt gingen in der traditionsreichen Universitätsstadt einer der fesselndsten Gaben des menschlichen Geistes auf den Grund: Warum kann der Glaube Berge versetzen?

Nicht immer braucht es dazu ein Erdbeben, auch das wurde in Tübingen klar. Wenn Patienten Zuspruch erfahren und Hoffnung schöpfen, dann können sie ihre Erkrankungen leichter besiegen. Der "Placebo-Effekt" entpuppt sich als mächtiges Wirkprinzip der Heilkunde.

"Wesentliche Elemente der Heilung liegen im Menschen"

Das von der Volkswagenstiftung unterstützte Treffen der hundert besten Placebo-Forscher in Tübingen markierte in zweifacher Hinsicht einen Wendepunkt des Fachs. Aus der Ecke des Zauberpriestertums rückt es ins Herz der Schulmedizin. Die Heilkraft der Einbildung beruht nämlich auf messbaren physiologischen Veränderungen des Körpers.

"Wesentliche Elemente der Heilung liegen im Menschen. Sogar bei schweren körperlichen Erkrankungen kann er seine Genesung beeinflussen", sagte Winfried Rief vom Fachbereich Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Marburg.

Und wer sich auf dem Tübinger Kongress informierte, der merkte auch: Der klassische Begriff Placebo (Lateinisch für: Ich werde gefallen) wird dem spannenden Phänomen eigentlich nicht mehr gerecht. Placebo, das klingt nach Zuckerpillen, Scheinoperationen und belogenen Patienten.

Doch nun zeigen die Experimente der Neurowissenschaftler und Psychologen: Zuckerpillen und Scheinoperationen sind bloß Mittel zum Zweck. Im Kern geht es darum, die Zuversicht zu wecken, die Psyche des Patienten zu streicheln. Und dazu braucht es keine Lügen, sondern Einfühlungsvermögen.

Wenn dem Arzt die Ansprache gelingt, dann ruft er im Körper des Patienten biochemische Antworten hervor, die wie ein Medikament wirken können: Im Blut steigt der Spiegel bestimmter Immunzellen und Hormone; im Gehirn entstehen endogene Morphine, körpereigene Schmerzmittel.

Und Menschen mit Parkinson produzieren Dopamin, also genau den Botenstoff, der ihnen fehlt. Das tun sie nicht nur, wenn sie Zuversicht erfahren, sondern faszinierenderweise auch dann, wenn sie, wie bei dem Erdbeben in Italien, in Gefahr schweben.

Aber auch gesunde Menschen sprechen auf die psychologischen Effekte an, die mit jeder Behandlung verbunden sind. In einer Studie etwa machte man Gewichtheber glauben, sie bekämen leistungsfördernde Substanzen verabreicht. Daraufhin wuchs die Kraft dieser Athleten um zehn Prozent.

Die einzigartige Gabe, Hoffnung in physiologische Verbesserungen umzumünzen, ist dem Geist des Menschen im Laufe der Evolution verliehen worden. Die Gabe erhöht seine Überlebenschance, weil sie es ihm ermöglicht, seine Selbstheilungskräfte just dann einzusetzen, wenn die Aussicht auf Gesundung am größten ist.

Von Natur aus verfügt jeder Mensch über eine körpereigene Apotheke, die auch ohne seelischen Beistand wirksam werden kann. Sie repariert Verletzungen durch nachwachsendes Gewebe, sie baut mit Hilfe der Leber Gifte ab, sie hetzt Immunzellen auf Krankheitserreger, sie löst mitunter sogar gezielt Schmerz aus, um den Kranken zur Schonung zu zwingen.

Doch diese Notfalleinsätze haben ihren Preis. Sie kosten Energie, und sie verursachen Nebenwirkungen, die manchmal schwerer sind als die Erkrankungen selbst. Erbrechen und Durchfall befördern zwar Bazillen nach draußen, aber sie spülen auch Nährstoffe und Flüssigkeit fort. Das Fieber treibt zwar Keime in den Hitzetod, aber es heizt dabei den Organen gefährlich ein.

Abgeschlagenheit, Übelkeit und Schmerzen seien evolutionäre Schutzmaßnahmen im Erkrankungsfall, sagen die englischen Forscher Nicholas Humphrey und John Skoyles, doch ironischerweise nähmen die Menschen sie als eigenständige Krankheiten wahr.

Um es mit den Notfalleinsätzen nicht zu übertreiben, sei im Körper eine Art Kontrollsystem entstanden, das mit den Heilkräften haushalte. Es sorge beispielsweise dafür, dass das Immunsystem in den kargen Wintermonaten auf Sparflamme laufe, um Energie zu sparen. Der Preis dafür seien die Erkältungen, die den Menschen vor allem in der dunklen Jahreszeit plagten.

Irgendwann in der Evolution des Menschen bekam das Kontrollsystem Hilfe, und zwar durch das Gehirn. Als es sich weiterentwickelt hatte, konnte es aus der Vergangenheit lernen und für die Zukunft planen. Seither dient das Gehirn dem Kontrollsystem als Sensor. Wann immer es Zuversicht vermittelt bekommt, setzt das System die körpereigene Apotheke gezielt ein.

Steinzeitdoktoren schienten das gebrochene Bein mit einem Ast, sogen Schlangengift aus dem Biss oder strichen Honig auf die Wunde. Nach Ansicht der Evolutionspsychologen Humphrey und Skoyles tat das dem Menschen doppelt gut. Diese Maßnahmen waren medizinisch sinnvoll. Und sie wirkten psychologisch, weil der Heiler die Zuversicht des Patienten weckte.

Selbst wenn der Schamane einmal nichts Handfestes in petto hatte - auf den schönen Schein konnte er sich verlassen. Mit Tanz, Tamtam und Trommelwirbel erzielte er beachtliche Heilerfolge.

Viele Methoden beruhten auf der psychologischen Wirkung

Leider führte das zu therapeutischen Auswüchsen wie der Dreckapotheke. Spinnennetze, Asseln, selbst Vipern wurden den Menschen als Medizin verkauft. Im alten Rom rieten Heiler zum Verzehr von Hundekot oder zum Laben an den Brüsten milchgebender Sklavinnen, um die Gefahr des Herztods zu bannen. Später traktierten Wanderchirurgen Patienten mit Blutegeln und Lanzetten - und ließen nicht wenige von ihnen zu Tode bluten.

Mit dem Aufkommen der Schulmedizin erkannten Ärzte, dass viele Behandlungsmethoden allein auf der psychologischen Wirkung beruhten. Sie begannen damit, Therapien wissenschaftlich zu untersuchen: Die eine Hälfte der Probanden behandelten sie richtig - die andere dagegen nur zum Schein, man nannte sie die Placebo-Gruppe. Mit der Zeit, sagt der Turiner Neurowissenschaftler Fabrizio Benedetti, sei das Wort "Vortäuschung" durch das Wort "Placebo" ersetzt worden.

Heute umfasst der Begriff Placebo aber auch die psychologische Wirkung einer Therapie. Und um diese im Patienten wachzurufen, muss man gar nicht unbedingt täuschen. Durch Einfühlungsvermögen und Offenheit kann der Arzt die spezifische Wirkung einer bestimmten Therapie um den geistigen Effekt erhöhen.

Wie es gehen könnte, haben die Neurologin Ulrike Bingel vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) und ihre Kollegen am Beispiel eines Schmerzmittels gezeigt. Sie fügten 22 Probanden einen unangenehmen Hitzereiz zu und verabreichten ihnen ein starkes, opioidhaltiges Schmerzmittel, und zwar unter drei verschiedenen Bedingungen:

Eine Gruppe von Patienten erhielt das Mittel, ohne dass sie es wusste. Bei dieser versteckten Gabe sank die Schmerzintensität zwar, jedoch nur geringfügig. Eine zweite Gruppe von Probanden wusste, dass sie nun ein Schmerzmittel bekommen werde. Bei dieser offenen Gabe war die Arznei doppelt so wirksam - bei gleicher Dosierung. Zum pharmakologischen Effekt kam der psychologische hinzu.

Umgekehrt konnte Neurologin Bingel die Wirkung des Opioids zunichtemachen. Das geschah im dritten Versuch: Die Probanden bekamen von den Ärzten zu hören, sie würden nun keine Therapie mehr erhalten und müssten sich leider auf eine Verstärkung des Schmerzes gefasst machen. Tatsächlich aber bekamen sie den Wirkstoff heimlich verabreicht.

Das Ergebnis: Die Pein der Testpersonen wurde so stark, als hätten sie gar kein Opioid bekommen. Neurologin Bingel sagt, die negative Erwartung habe "den Effekt des Medikaments vollständig zerstört".

Im letzteren Fall war ein "Nocebo-Effekt" (Lateinisch für: Ich werde schaden) am Werk. Er wird wirksam, wenn der Arzt dem Patienten durch unbedachte Sprüche die Hoffnung raubt. Die Lektüre des Beipackzettels kann deshalb zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden - weil der Patient just die Nebenwirkungen entwickelt, die er gerade gelesen hat.

Nicht nur die Medizin selbst, sondern auch die Umstände entschieden über den Erfolg, mahnt der Turiner Neurowissenschaftler Benedetti. "Arzneimittel werden nicht in einen luftleeren Raum gespritzt, sondern in einen verwickelten lebendigen Organismus, der Erwartungen und Vorstellungen hat."

Diese Erwartungen wie ein bewährtes Medikament wirksam werden zu lassen - das ist die neue Formel der seriösen Geist-Heiler. Auf dem Tübinger Kongress berichtete John Kelley von der Harvard Medical School, wie diese Formel Menschen mit Reizdarm schon geholfen hat.

Mit Ted Kaptchuk und anderen Kollegen verglich Kelley zwei Gruppen von Menschen mit Reizdarm-Syndrom: Die eine erhielt gar keine Behandlung. Der anderen kündigten die Forscher an, sie bekomme Tabletten ohne Wirkstoff. Sie zeigten den Probanden Flaschen mit der Aufschrift "Placebo-Pillen" und erklärten, wie Placebos aufs körpereigene Schmerzsystem wirken.

Das Ergebnis mochten Kelley und Kaptchuk zunächst nicht glauben. Die offene Gabe der Zuckerpillen erzielte bei Reizdarm-Patienten ähnlich große Effekte, wie sie von richtigen Medikamenten sowie von vorgetäuschten Placebos bekannt sind.

Gegen das Volksleiden Rückenschmerz wollen Mediziner am Hamburger UKE nun diese Heilkraft der Zuversicht einsetzen - zum Beispiel bei einem 67 Jahre alten Mann, der früher als Handlanger in einer Tischlerei gearbeitet und sich dabei das Kreuz ruiniert hatte. Als die Mediziner den Mann baten, einen Wasserkasten vom Boden zu heben, musste er passen. Der Schmerz sei zu stark.

"Bei den meisten Patienten nimmt der Schmerz ab"

Ein Arzt im weißen Kittel holte daraufhin eine Flasche mit einer Infusionslösung hervor. Das Medikament darin sei "hochwirksam gegen Rückenschmerzen", versicherte der Doktor. Es führe "zu einer Ausschüttung körpereigener Opioide, der sogenannten Endorphine, und unterstützt deren schmerzhemmende Wirkung".

Der 67-Jährige bekam ein großes Pflaster auf den Rücken geklebt, das mit einem Schlauch und einer Infusionsflasche verbunden war. Über zwei Spiegel konnte er gut erkennen, wie das Pflaster seine Lendenwirbel bedeckte. Die Flüssigkeit drang aus dem Pflaster auf seine Haut, es fühlte sich an wie ein nasser Lappen. Nach einer Viertelstunde zogen die Forscher das Pflaster ab und entließen den Mann.

Zur Nachuntersuchung erschien er in der Woche darauf wie verwandelt. Sein Schmerz sei merklich abgeklungen, berichtete er den Ärzten. Und als die Forscher auf den Wasserkasten in der Ecke zeigten, nahm der Mann ihn und hob ihn auf eine Liege.

Ihre Pflastertherapie haben die Hamburger bisher an 48 Patienten erprobt. "Bei den meisten nimmt der Schmerz ab", sagt die beteiligte Psychologin Regine Klinger. "Und ihre Beweglichkeit steigt messbar."

Umso mehr erstaunt es die Patienten, wenn Klinger ihnen schließlich verrät, wem sie die Gesundung verdanken: ihrem heilenden Geist - weil die Infusionsflasche nur eine gewöhnliche Kochsalzlösung enthielt.

Diese Beichte ist der Clou der Pflastertherapie. "Ich erkläre dem Patienten, dass er sich das Schmerzmittel selbst hergestellt hat", sagt Klinger. "Er kann sich also so programmieren, dass er etwas gegen den chronischen Schmerz tun kann."

Selbst bei einem so offensichtlich körperlichen Eingriff wie einer Operation am offenen Herzen spielt die Zuversicht eine entscheidende Rolle. Das berichtete der Marburger Psychologe Rief auf dem Kongress in Tübingen.

Bei der Studie, die Rief gemeinsam mit Chirurgen in Marburg machte, ging es um Menschen, die einen Bypass brauchten. Diese Patienten nahmen zehn Tage vor der geplanten Operation an einer Schulung teil, die ihnen eine positive Erwartungshaltung vermitteln sollte.

Ihnen wurde die Ursache ihrer Erkrankung erklärt, dann erfuhren sie, welchen Nutzen der Eingriff ihnen bringen werde. Schließlich sollten die Patienten sich ausmalen, was sie nach der Bypass-Operation wieder alles unternehmen wollten. Sie lernten eine kognitive Technik, sich diese guten Gedanken gezielt ins Bewusstsein zu rufen.

Am Tag der Operation trafen sich die Psychologen und die Patienten zu einem zweiten Gespräch. Es sei wichtig, die normalen Folgen einer Bypass-Operation von den unwahrscheinlichen Komplikationen zu unterscheiden, damit sie sich keine unnötigen Sorgen machten.

Diese Geist-Schulung stieß bei den ersten 36 Patienten nicht nur auf großes Interesse, sondern sie führte tatsächlich zu besseren Verläufen. "Der Patient liegt unterm Messer, sein Brustkorb ist eröffnet, er hängt an der Herz-Lungen-Maschine, es geht um echte, harte Medizin", sagt Rief. "Und trotzdem konnten wir nachweisen, dass die Erwartung des Patienten vor dem Eingriff maßgeblich darüber entscheidet, wie es ihm drei Monate später ergehen wird, ob er wieder arbeiten kann und wie lange er sich noch gehandicapt fühlt."

Es ist ein Ergebnis, von dem jeder Arzt lernen kann. Anteilnahme ist die am stärksten unterschätzte Medizin.