Alva Noë ist Philosophieprofessor in Berkeley, der sich aus philosophischer Perspektive mit der Frage nach der Entstehung von Bewusstsein beschäftigt. Er ist der Ansicht, dass dem Gehirn zwar schon eine tragende Rolle für Bewusstsein zukomme (S. 208), dass Bewusstsein aber nicht im Gehirn entstehe (S. 19), sondern es letztendlich "wir" seien, die Bewusstsein aktiv "performten", "leisteten" oder "erschüfen". Nicht das Gehirn sei elementar, sondern das ganze Lebewesen als Träger der bewussten Eigenschaften (S. 58), das mit der Welt interagiere. "Gehirne denken nicht, denn sie haben keinen Geist, Mensch und Tier hingegen schon. Wenn wir den Beitrag des Gehirns zu geistigen Vorgängen verstehen wollen, müssen wir uns ein für alle Mal von der Vorstellung trennen, dass unser Geist in unserem Inneren und durch innere Vorgänge erzeugt wird." (S. 194).

Unter dem "wir" versteht Alva Noë etwas Nichtkörperliches, das auch unabhängig vom Körper existiert: "Oder - mit Merleau-Ponty gesprochen - unser Körper gehört uns, er ist der Ort, an dem wir fühlen und durch den wir handeln, insofern als "der Strom seines auf die Welt gerichteten Tuns [ihn] durchfließt"." (S. 96) Auf die Frage, wie dieses "wir" zum Körper kommt und wie dieser "unser" Körper wird geht er leider nicht ein und er scheint sich auch gar nicht bewusst zu sein, dass seine Konzeption einen puren Leib-Seele Dualismus darstellt, bei dem eben die Interaktion zwischen "wir" und "Körper" nicht erklärt werden kann. Dabei steht für ihn die Interaktion gerade im Zentrum.

Bewusstsein ist Leben

Für Noës Vorstellung von Bewusstsein ist nicht das Gehirn, sondern die Existenz dieses "aktiven Ichs", das mit der Umwelt interagiert zentral. Aktiv interagieren oder handeln können aber nur Lebewesen, die zumindest scheinbar über dieses nicht näher erörterte nichtkörperliche "Ich" verfügen, das für Noë so zentral ist, da es ja (zusammen mit dem Körper) erst Bewusstsein erschafft oder "performt". Aus dieser Perspektive ist sein Schluss nur konsequent, dass die Frage nach dem Bewusstsein oder nach dem Geist die Frage nach dem Leben sei (S. 58f., vgl. Noë: alles Leben hat Geist und Bewusstsein). Jedes Lebewesen, so Noë, sei Träger primitiver Handlungskompetenz, Träger von Interessen, Bedürfnissen und Sichtweisen und verfüge über zumindest rudimentäres Bewusstsein (S. 58f.). Dies gelte sogar für Bakterien (Pflanzen erwähnt er spannenderweise nicht), deren Bewusstsein sich allerdings nicht im Innern des Bakteriums abspiele, sondern sich dadurch zeige, dass die Bakterie eine "Welt habe". Im Original tönt das dann so:

"Der Geist einer Bakterie besteht nicht darin, wie es in ihrem Inneren aussieht. Er ist vielmehr Teil dessen, wie die Bakterie aktiv in ihre Umgebung eingreift und darauf reagiert. Es gibt zwar innere Korrelate des Bewusstseins: Nur Lebewesen mit einem entsprechenden Gehirn können bestimmte Erlebnisse haben, und zweifelsohne haben Bewusstseinsvorgänge neuronale Entsprechungen. Es gibt jedoch auch äußere Korrelate des Bewusstseins. Bewusste Wesen haben Welten, und zwar in dem Sinne, dass sich ihnen die Welt als etwas Wertgeladenes zeigt: Zucker! Licht! Sex! Verwandte! [sic!] Der Geist einer Bakterie, soweit vorhanden, zeigt sich in der Art, wie sie auf ihre Umgebung reagiert und darin eingreift. Der Geist der Bakterie ist ihr Leben." (S. 59, Noë: Der Geist der Bakterie ist ihr Leben)

Solche Sätze sind kaum noch verständlich, was nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass Noë Begriffe mehrdeutig und teilweise in neuen Bedeutungen verwendet. So stellt sich die Frage wie sich ohne innere Korrelate des Bewusstseins, die ein Gehirn voraussetzen, etwas Wertgeladenes zeigen kann oder was äussere Korrelate des Bewusstseins ohne innere Korrelate mit Bewusstsein gemein haben sollen. Unklar ist, was er unter "äussere Korrelate" von Bewusstsein versteht, die ja offensichtlich nicht bewusst im klassischen Sinne sind - und auch nicht in seinem Sinne. Denn auf Seite 22 definiert er Bewusstsein wie folgt: „Mit dem Begriff des „Bewußtseins“ meine ich in diesem Buch, ganz allgemein gesagt, „Erfahrung“. Und Erfahrung umfasst für mich im weiteren Sinne Denken, Fühlen und die Tatsache, dass sich uns die Welt in der Wahrnehmung zeigt.“ Sind Bakterien in diesem Sinne bewusst, müsste sich ihnen Zucker in der Tat als etwas "Wertgeladenes" zeigen, sie verfügten dann aber eben auch über innere Korrelate von Bewusstsein. Und wie in aller Welt kommt er darauf, dass für Bakterien, die sich nichtsexuell vermehren Sex oder Verwandte etwas "Wertgeladenes" sein soll? Oder bezieht er sich hier gar nicht auf Bakterien? Allerdings schreibt er auf Seite 63, dass Bakterien primitive Subjekte und Handlungsträger seien, also über sein "magisches Ich" verfügen, dies allerdings ohne über innere Korrelate von Bewusstsein zu verfügen, die aber notwendig zu sein scheinen für seine Definition von Bewusstsein.

Diese Verwirrung stammt wohl daher, dass Noës Konzeption schlicht nicht funktioniert. Um seine Theorie, dass Bewusstsein auf aktiver Interaktion mit der Umwelt basiert zu verteidigen, ist er gezwungen, Bakterien ein Bewusstsein zuzusprechen. Da dies aber offensichtlich absurd ist, trennt er den Begriff von Bewusstsein willkürlich auf, was die Theorie allerdings auch nicht plausibler macht. Denn die "äusseren Korrelate" von Bewusstsein wären eben ein Bewusstsein ohne Bewusstsein und beschrieben einfach die bewusstseinsunabhängige Interaktion mit der Umgebung. Da für Noë Bakterien aber nicht einfach wie Automaten funktionieren können, müssen sie aktive Handlungsträger sein und als solche über Bewusstsein - einfach ohne Bewusstsein - verfügen.

Die Tatsache, dass auch Bakterien mit ihrer Umwelt interagieren bedeutet aber keineswegs, dass diese über Geist oder sogar Bewusstsein verfügen, wobei Noë diese Begriffe oftmals willkürlich gleichsetzt. Vielmehr scheint es verschiedene Stufen dieser Interaktion zu geben, von einfachen Reiz-Reaktions Mustern über erste Formen, die einen "Geist" einschliessen bis hin zum selbstbewussten Menschen, wobei die Existenz von Geist und Bewusstsein mit allergrösster Wahrscheinlichkeit ein Hirn voraussetzen - wie Noë auch selbst eingesteht: "Wenn die Beschaffenheit unserer geistigen Zustände von den Vorgängen im Gehirn abhängt - und das ist der Fall -, dann dürfen wir uns nicht auf einzelne Neuronen beschränken." (S. 66)

Noë hat natürlich insofern recht, als für das Verständnis von Bewusstsein nicht nur das Hirn oder einzelne Neuronen, sondern auch das Verhalten untersucht werden sollte und dass ein Hirn in einer Petrischale ohne "Inputs" kaum Bewusstsein generieren kann (S. 27). Mit der Gleichsetzung von Bewusstsein, Geist und Leben schrammt er allerdings esoterische Weltbilder und auch wenn manche von ihm vorgebrachte Gedanken spannend und weiterführend wären, diskreditiert er sich immer wieder selbst mit Sätzen wie den Folgenden:

"Diese Verbindung zwischen Leben und Bewusstsein ist entscheidend. Ob ein Wachkomapatient ein Erleben hat, ist unter anderem deshalb so schwer einzuschätzen, weil sein Leben gänzlich unterbrochen wurde [sic!]; gewissermaßen steht für uns sein Leben selbst infrage. Anders verhält es sich, wenn wir uns fragen, ob beispielsweise ein Hummer unsere Berührung spürt. Das Leben eines Hummers können wir anzweifeln, aber nicht, weil es unterbrochen wurde, sondern weil es uns so fremd ist." (S. 64) Bei solchen Stellen handelt es sich offensichtlich nicht um "Ausrutscher", sondern sie sind direkte Konsequenz seiner Gedanken und Zeichen dafür, dass daran etwas nicht stimmen kann.

Fazit

Alva Noë verwendet in seinem Buch viele Beispiele, um seine These zu stützen, dass Bewusstsein von "uns" erschaffen werde. Oftmals zieht er allerdings sehr gewagte Schlüsse, da die Beispiele eher gegen seine eigene Theorie sprechen oder er zieht Schlüsse, die nicht das Kernproblem, die Entstehung von Bewusstsein tangieren. Vor allem aber lassen sich die meisten Beispiele ebenso, meist viel überzeugender, auf die klassisch wissenschaftliche Art und Weise erklären. Einzig der Punkt, dass Bewusstsein nicht allein vom Hirn, sondern auch von "Inputs", im Falle von Lebewesen von einem Körper abhängig ist und deshalb nicht ohne solchen in einer Petrischale gezüchtet werden könne, ist sehr berechtigt. Selbstverständlich hängt das Bewusstsein nicht nur von den Vorgängen im Gehirn ab (S. 196), selbstverständlich sind wir in diesem banalen Sinne nicht unser Gehirn, wenn darunter verstanden wird, dass das Gehirn ohne irgendwelche Inputs Bewusstsein generieren könne. Bewusstsein entsteht allerdings durch Vorgänge im Gehirn, nachdem dieses durch Sinnesorgane oder virtuelle Äquivalente "gefüttert" worden ist, wie er auf Seite 200 faktisch auch selbst eingesteht. Ginge es Alva Noë also nur darum zu zeigen, dass wir nicht nur unser Gehirn seien, dann gäbe es kaum Probleme mit seinem Anliegen - bloss wäre dieses auf fünf Seiten abhandelbar. Seine alternative Theorie für die Entstehung und das Wesen von Bewusstsein kann hingegen überhaupt nicht überzeugen. Da er die beiden völlig verschiedenen Bereiche aber miteinander vermischt, scheint sein Buch für viele Menschen plausibel zu sein, ohne dass sie sich wirklich bewusst werden, wie esoterisch und offensichtlich falsch seine Theorie letztendlich ist.

Alva Noë. Du bist nicht dein Gehirn: Eine radikale Philosophie des Bewusstseins. Piper 2010.